Stimmungstief
Neun Monate mit fallenden Börsenkursen haben ihre Spuren in der mentalen Verfassung der Kapitalanleger hinterlassen. Die Stimmung ist auf Tiefstände gefallen: Krieg. Inflation. Steigende Zinsen. Der europäische Energiemarkt in Aufruhr. Rezessionsängste. In weiterhin intakten Abwärtstrends stehen die meisten G&W-Fonds konsequent mit niedrigen Aktienquoten als Zuschauer am Rand des Börsengeschehens.
Diskrepanz
Aktuell gibt es nicht nur ein Missverhältnis zwischen zwei miteinander in Beziehung stehenden Dingen. Mit der Börsenstimmung und dem Gaspreis gibt es gleich zwei Brennpunkte. Der erste Widerspruch besteht zwischen der abgründigen Einschätzung der Situation an den Börsen und der tatsächlichen Lage in den aktuellen Unternehmensdaten. Diese Spannung lässt sich vergleichsweise leicht lösen. Die Unternehmensdaten spiegeln die Vergangenheit. Die Stimmung entsteht aus dem Blick in eine Zukunft, die als nahezu ausweglos negativ gesehen wird. Im Mittelpunkt dieser Stimmung steht das Gas, sein Preis und seine generelle Verfügbarkeit im kommenden Winter. Die Situation wird so sehr als Tragödie gesehen, dass man kaum an Goethe und seinem „Faust“ vorbeikommt. Wäre dieses Werk nicht im Jahr 1808 sondern heute veröffentlicht worden, würde man künftig vielleicht zitieren:
„Am Gase hängt, Zum LNG drängt, Doch alles. Ach, wir Armen.“
Natürlich hätte dieser modifizierte Ausspruch nicht in das klassische Bühnenbild gepasst, denn Margarete, genannt Gretchen, hätte sich wohl kaum vor dem Spiegel stehend einen LNG-Tanker um den Hals hängen können. Vielleicht wäre es stattdessen der Blick im Winter aus dem Fenster auf ein neues LNG-Terminal geworden. Aber wer weiß schon, ob Goethe sich hätte dazu hinreißen lassen, wenn er jetzt am Schreibtisch sitzen würde.
Erdgas
Die Fokussierung auf den Gaspreis ist in Deutschland zurzeit derart dominant, dass es sich lohnt, den Details über den Ursprung dieser Entwicklung nachzugehen. Erdgas wird hauptsächlich zur Wärme- und Stromerzeugung eingesetzt. In beiden Bereichen steht das Gas bei den fossilen Energieträgern im Wettbewerb zu Kohle und Erdöl. Steigt der Preis eines Energieträgers, so wird er über kurz oder lang durch die jeweils preiswertere Alternative ersetzt, so dass sich die Preise über längere Zeiträume hinweg angleichen. Aktuell sind Öl und Kohle preiswerter auf dem Weltmarkt zu bekommen als Erdgas, also finden bereits Ausweichbewegungen statt. China hat z. B. in den vergangenen Monaten 30 % weniger Erdgas nachgefragt als geplant war. Zum einen liegt es an einer deutlich schwächer laufenden Wirtschaft in China (u.a. wegen der häufigen Corona- Lockdowns), es liegt aber auch an der Verwendung von deutlich mehr Steinkohle zur Verstromung als ursprünglich vorgesehen war. Im Gegenzug konnte Australien mehr LNG (Liquefied Natural Gas, verflüssigtes Erdgas) am Weltmarkt verkaufen und hat damit auch ohne direkte Lieferungen nach Europa verhindert, dass es im gesamten Preisgefüge zu noch größeren Verwerfungen gekommen ist.
Kurzfristig verfügbar, aber teuer
Einen grundsätzlichen Mangel an Erdgas gibt es nicht. Es gibt mehr Erdgas im Boden als jemals von den Menschen verfeuert werden kann. Der aktuell so vehement wahrgenommene Mangel an Erdgas in Europa ist auf absehbare Zeit auch kein Problem der Verfügbarkeit, sondern des Preises, denn das Pipelinegas aus Russland kann kurzfristig nicht zu gleichen Preisen aus anderen Regionen ersetzt werden. Es hat wirtschaftlich natürlich überhaupt keinen Sinn gemacht, freie Kapazitäten für solch einen Fall der Fälle wie er jetzt eingetreten ist z. B. in Katar oder in Nordamerika vorzuhalten. Anlagen für die Reinigung und Verflüssigung von Erdgas sind mit bis zu 10 Milliarden Euro teuer und rechnen sich damit erst bei einer Betriebsdauer von mehr als 15 Jahren. Ebenso müsste es eine größere Anzahl von Tankern geben, welche künftig auch die Menge an Gas zusätzlich über die Meere transportierbar machen würde, die bisher durch russische Pipelines strömte. Machbar wäre das. Aber hier stellt sich jetzt eine entscheidende Frage: Lohnt sich jetzt noch ein Investment in die Förderung und den Transport von fossilen Energieträgern, wenn die Welt in Zukunft erneuerbare Energien einsetzen und das Erdöl-Zeitalter durch ein Strom- und Wasserstoff- Zeitalter beenden will? Die Antwort lautet: Eigentlich lohnen sich Investitionen in fossile Energieträger in diesem Szenario nicht, außer es würden dennoch Lieferverträge über lange Zeiträume abgeschlossen – was von Europa aktuell aber kategorisch abgelehnt wird. Dieses Dilemma wurde im vergangenen halben Jahr über den Preisanstieg für kurzfristige Lieferungen am Spotmarkt gelöst.
Preisniveau
Europa hat mit seiner Finanzkraft die Spotmärkte der Welt für sofort lieferbares Gas leergekauft und dabei andere Käufer verdrängt. Etwa die Hälfte dieses Gases ist aus den USA gekommen. Die Gasspeicher in Deutschland sind jetzt nahezu voll. Die regulatorisch gesetzten Vorgaben für den Füllstand der Speicher am 1. Oktober 2022 wurden weit übertroffen. Es ist daher auch keine Überraschung, dass der Gaspreis an den europäischen Terminbörsen seit Ende August bereits wieder um 30 % gefallen ist. Dennoch ist der Preis auf diesem Niveau aktuell immer noch mehr als zehnmal so hoch wie im Herbst 2020, also vor zwei Jahren. Der aktuelle Handelspreis für Lieferungen im Sommer 2024 geht allerdings von einer Halbierung der Preise des jetzigen Niveaus aus – was dann aber immer noch mehr als fünfmal so teuer sein wird wie die Preise, an denen der Gasmarkt während der Corona-Pandemie mit seinen ausgesprochen niedrigen Energiepreisen Gefallen gefunden hatte.
Deindustrialisierung?
Bei den genannten Preisveränderungen für Gas als Lieferant von Prozesswärme in der Industrie wird es dazu kommen, dass in dieser durch den Krieg in der Ukraine verschärften Umbruchphase der Energiewirtschaft besonders energieintensive Branchen nicht vollständig am Produktionsstandort Deutschland gehalten werden können. Die große Frage, vor der aktuell die politischen Akteure stehen, ist die Dauer hoher Gas- und Strompreise in Europa. Falls es nur eine kurzfristige und damit überbrückbare Zwischenepisode wäre, könnte man mit staatlichen Unterstützungsmaßnahmen dafür sorgen, dass nur ein überschaubarer Teil der besonders energieintensiven Unternehmen den Produktionsstandort Deutschland verlassen müsste. Sie könnten in Länder wie die USA abwandern und dort auf absehbare Zeit mit einem anderen Preisniveau für Energie kalkulieren. In diesem Kontext ist der Begriff „Deindustrialisierung“ für entsprechende Produktionsverlagerungen nicht angebracht. Viele Branchen sind in den vergangenen Jahrzehnten schon in andere Länder abgewandert. Ein wichtiger Grund hierfür sind z. B. niedrigere Löhne in Asien. Zum Problem würden solche Verlagerungen erst dann werden, wenn ihr Ausmaß zu einer Massenarbeitslosigkeit führen würde. Aufgrund der demographischen Entwicklung in Europa ist hiervon jedoch nicht auszugehen.
Diesmal ist alles anders?
Diese vier teuersten Wörter der Kapitalanlage haben es in den vergangenen drei Jahrzehnten wieder und wieder in die Schlagzeilen und ebenso in unsere Marktkommentare geschafft. Ob es nun das Platzen der dot.com-Blase am Anfang des Jahrtausends war, oder die Finanzkrise mit ihrem Höhepunkt im Jahr 2008, der Brexit, die drohende Zahlungsunfähigkeit von Griechenland oder der Ausbruch des Coronavirus SARSCoV- 2 – immer wieder neu wurden diese vier Wörter bemüht. Nie ist es dazu gekommen, dass tatsächlich alles anders war, womit in jedem einzelnen Fall immer neu gemeint war, dass keine Lösungen für die jeweils neu anstehenden Herausforderungen gefunden werden. Die Lösungen wurden aber gefunden. Auch in diesem Fall wird es nicht anders sein. Doch auch wenn wir aufgrund all unserer Erfahrung mit immer neuen Krisen und ebenso mit den oft erratischen Preisschwankungen an Rohstoffmärkten zuversichtlich sind, dass es ein neues Gleichgewicht am Energiemarkt geben wird, so ist es aktuell nicht absehbar, wann dies und auf welchem Niveau dies geschehen wird. Es ist daher sinnvoll, das aktuelle Marktgeschehen an den Börsen weiterhin vom Zuschauerrang aus zu betrachten, denn auch hier ist nicht absehbar, ob und wie weit die Märkte noch fallen werden.
Antworten
Unsere Kunden stellen uns schon seit Monaten immer wieder eine Frage: Wie weit sind wir aus dem Markt? Die folgende Liste zeigt für unsere Mischfonds mit aktivem Risikomanagement und die beiden Managed Accounts (MA) den aktuellen Status des Rückzugs aus dem Risiko (und damit auch der Chancen), wobei in der ersten Oktoberwoche bei den im Moment noch etwas offensiver aufgestellten Strategien mit einem weiteren Abbau der Aktienquote zu rechnen ist:
Perspektiven
Eines ist allerdings auch zu bedenken. Börsen leben nicht im Hier und Jetzt. Sie leben in der Zukunft. Man sagt, sie seien dem, was in der Gegenwart geschehe, häufig ein halbes Jahr voraus. Genauso wie die Kurse bereits am Jahresanfang 2022 gefallen sind, als im Wirtschaftsgeschehen noch alles in bester Ordnung schien, so werden sie auch die Trendwende aufwärts dann einläuten, wenn möglicherweise noch kein Licht am Ende eines bevorstehenden Rezessionstunnels zu sehen sein wird. Wir werden mit Käufen systematisch darauf reagieren.