Die Frage aller Fragen

Leon Christian BreuerMarktkommentar

Die Frage aller Fragen
Jeder Kapitalanleger muss für sich selbst – und vor allen anderen Aspekten – eine zentrale Entscheidung treffen: Welches Ausmaß an Bewertungsschwankung der Vermögenswerte kann ertragen werden? Erst an zweiter Stelle darf die Frage nach dem Ertragspotential und der Wertspeicherfähigkeit der Kapitalanlage gestellt werden. Wird diese Reihenfolge verdreht und werden zudem noch die psychischen Belastungsfaktoren unterschätzt, die im Verlauf von starken Abwärtsbewegungen der Märkte auf der emotionalen Ebene wirkmächtiger werden als vermutet, dann wird es früher oder später zum größten anzunehmenden Unfall eines jeden Kapitalanlegers kommen: Aus Angst um das investierte Geld wird die Reißleine gezogen. Es wird verkauft. Dieser Verkauf wird als rational richtig und gefühlsmäßig zutiefst befreiend empfunden. Diese Erfahrung prägt sich so stark ein, dass der erneute Kauf im anschließenden Aufwärtstrend häufig nicht gelingt, denn die Kurse werden bereits in einem Umfeld wieder steigen, das als höchst unsicher wahrgenommen wird.

Grundlegung
Es ist wichtig, diese Erfahrung tatsächlich gemacht zu haben. Man glaubt sie sonst nicht wirklich und macht den Fehler, seine Kapitalanlageüberlegungen (gegen anderen Rat) mit der Frage zu beginnen, wie viel Ertrag erzielt werden kann. Diese notwendige Erfahrung wurde auch von den G&W-Unternehmensgründern im Aktiencrash 1987 durchlebt und führte zur Frage, wie dieses Reißleinen-Risiko so weit wie möglich verringert werden kann. Grundsätzlich ist die Antwort einfach. Man muss rechtzeitig verkauft haben, dann kann im fallenden Markt nichts mehr verloren werden. Steigen die Kurse wieder, so muss gekauft werden, denn ansonsten kann kein Ertrag erzielt werden.

Diese einfache – und dabei ohne Wenn und Aber richtige – Antwort löst allerdings das Problem nicht, denn jetzt wird das ursprüngliche Problem auf die Frage verlagert, wann verkauft und gekauft werden soll. Auch hier gibt es nur eine sinnvolle Lösung. Diversifikation ist erforderlich, und die Bereitschaft zu akzeptieren, dass man nicht in der Lage ist, mehrere dieser Entscheidungen in Folge ohne Systematik richtig zu treffen. Die Versuchung ist groß, dies nicht als gegeben hinnehmen zu wollen, und es daher dennoch zu wagen, und so wird es immer wieder versucht. Im Regelfall erfolglos.
Diese Grundgedanken lassen sich Schritt für Schritt weiter entwickeln, denn jede Lösung wirft eine neue Fragestellung auf und die Tücken liegen wie so häufig im Detail. Dreißig Jahre Unternehmensgeschichte – am 1. Oktober 2021 wird es soweit sein – reichen aus, um einen realistischen Überblick über dieses Terrain gewonnen zu haben.

Der fehlende Zins
Langfristige Statistiken – die genauen Zahlen hängen vom gewählten Zeitraum ab – zeigen einen durchschnittlichen Ertrag von 6 % bis 8 % für Aktieninvestitionen und von 4 % bis 6 % für Anleihen. Diese Zahlen lassen sich als Fakten belegen. Sie helfen aber nicht bei der Einschätzung der grundlegenden Risiken, denn die Streubreite der Aktienerträge ist hoch. Es wird wohl nur selten ein Jahr geben, in dem dieser durchschnittliche Ertrag erzielt wird.
Das eigentliche Problem jeder Portfoliostruktur ist aktuell aber der schon seit einigen Jahren fehlende Zins. Stiftungen, Lebensversicherer, Pensionskassen, viele von ihnen stehen daher bereits mit dem Rücken zur Wand. Auf der Grundlage der gewohnten und als klassisch-konservativ angesehenen Anlagequoten von bis zu 30 % Aktien und mit daraus folgend mindestens 70 % Anleihen lässt sich in Summe bei negativem Zins kaum noch ein Gesamtertrag erzielen. Die Schlussfolgerung daraus könnte lauten, dass man nur die Aktienquote erhöhen müsse, um wieder ein Ertrags-potential zu haben. Das ist richtig. Aber eine Auflösung in diese Richtung führt zu den Folgen der Streubreite von Erträgen aus Beteiligungs-kapital (Aktien) und damit zur Ausgangsfrage: Wie viel Schwankung kann und will ein Investor im Verlauf von extremen Kapitalmarktreaktionen ertragen?
Auch wenn die Risikotragfähigkeit eines Investors hoch sein sollte, (wichtig hierfür ist vor allem – das Geld wird im Rahmen der Lebensplanung nicht gebraucht), so heißt das noch lange nicht, dass er die Angst ertragen kann oder will, dass aus einer Preisschwankung ein Verlust wird, oder andererseits auch die Belastung, dass ein Gewinn sich wieder in Luft auflösen könnte. Der Zins hat es den Anlegern in der Vergangenheit erspart, sich diesen Herausforderungen der Märkte zu stellen. Warum hätte man sich dem auch stellen sollen, wenn die Bandbreite der Erträge von 4 % bis 6 % (geringe Schwankungen) gegen eine Alternative von 6 % bis 8 % stand (hohe Schwankungen)? Es hätte das Interesse an einem höheren Ertrag sein können. Aber notwendig wäre es nicht gewesen.
Wie sieht es jetzt, ganz konkret am Jahresanfang 2021, mit dieser Frage aus? Ist es notwendiger als zuvor geworden, sich stärker als bisher auf den schwankenden Boden der Aktienkursentwicklung zu begeben. Auf den ersten Blick scheint es so, denn der negative Ertrag nagt an der nominellen Substanz des Kapitals. Von der anderen Seite geschieht Gleiches mit der realen Substanz durch den Kaufkraftverlust der Inflation. Auf den zweiten Blick möchten wir diese Schlussfolgerung gleich wieder relativieren. Diese Entscheidung ist von jedem Anleger ganz individuell zu treffen. Diskutieren Sie daher diese Frage mit uns.

Risikomanagement abwärts
Wie ist es uns und unseren Kunden im Jahr 2020 mit dem Aktienabsturz ergangen, der als Corona-Crash in die Börsenhistorie eingehen wird? Es war der schnellste Absturz, den wir je erlebt hatten. Aus vollem Vorwärtsgang. Am Vortag standen alle Ampeln noch auf grün. Dann hat es im Februar gekracht, denn die Welt hatte urplötzlich eine andere Wahrnehmung von der Zukunft. Wir haben getan, was ein Risikomanager tut. Wir haben verkauft, später im Kursverlauf als das üblicher-weise der Fall ist. Es ging zu schnell für eine systematische Vorgehensweise, denn eine Einstellung der Verkaufssysteme, die in diesem Szenario funktioniert hätte, würde in den meisten anderen Szenarien ins Leere laufen und mehr Schaden als Nutzen anrichten. Dennoch sind wir den Verkaufssignalen gefolgt, haben gehandelt und verkauft. Es war wichtig dies zu tun, auch wenn wir im Rückblick in dem Moment nur noch einen Teil der Verluste vermieden haben. Denn die Gewissheit, dass Mitte März 2020 kaum noch Verlustrisiken bestanden, war für unsere Anleger zu diesem Zeitpunkt der Unsicherheit Gold wert.

Risikomanagement aufwärts
Auch wenn es am Ende des Winters 2019/2020 elementar war, nicht investiert zu sein, so hat sich in diesem Moment das Risikoprofil nahezu aller G&W-Kapitalanlagen radikal gedreht. Das Risiko bestand nicht mehr darin, Verluste hinnehmen zu müssen. Das Risiko bestand am Beginn des Frühlings 2020 darin, keine Gewinne erzielen zu können, wenn die Kurse beginnen, wieder zu steigen. Wir haben diese kritische Marktphase damals Woche für Woche kommentiert und die Kommentare auf unserer Homepage veröffentlicht. Wir haben zur Diskussion eingeladen, haben auf den einzigen G&W-Fonds hingewiesen, der ohne Risikomanagement gesteuert und von einem reinen Chancenmanagement angetrieben wird. Er war in diesem Moment die perfekte Chance für den Fall, dass die Kurse steigen sollten. Sie sind gestiegen. Aber niemand war damals in unserem Umfeld willens, diese Chance zu riskieren. Der mediale Druck, die Bedenken, dass es „in der schlimmsten Rezession seit 100 Jahren“ noch viel dramatischer kommen würde, war zu groß.
Daher war es entscheidend, dass diese Entscheidung über den Neueinstieg in den Aktienmarkt nicht aktiv über ein Abwägen von Für- und Wider-Argumenten durch uns getroffen werden musste. Wir haben vergleichbare Erfahrungen in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach gemacht und wissen daher, wie wichtig der Faktor der Entemotionalisierung durch mathematische Modelle ist. Wir sind daher diszipliniert den G&W-Risikomanagement-Algorithmen gefolgt und haben im steigenden Markt konsequent erneut investiert.

Chancenmanagement
Ein Vergleich der Ergebnisse aller G&W-Fonds zeigt, dass die Streubreite der Performance im Jahr 2020 enorm war. Es liegt daran, dass es ein extremes Marktszenario war. Daher wirkten sich die Reaktionsprofile der mathematischen Algorithmen und besonders auch die Anlageuniversen der Fonds stärker als sonst üblich auf die Zahlen aus. Generell erzielten US-Investments bessere Ergebnisse als Europa- und Deutschland-Fonds. An der Spitze der Performance-Rangliste des Jahres 2020 stand unser erster und international investierender Nachhaltigkeitsfonds. Es wird immer deutlicher, dass – u.a. politisch gewollt – mehr und mehr Geld in diesen Sektor fließt. Es ist daher nachvollziehbar, dass hier aktuell besonders stabile Momentum-Bedingungen entstehen, die dem Chancenmanagement des Fonds ein ideales Umfeld für überdurchschnittlich gute Ergebnisse liefern.
Die Lösung für eine gleichmäßigere Verteilung der Ergebnisse ist eine breitere Diversifikation der Anlagestrategien. Neben der Zinsthematik werden wir diesen Aspekt – sofern dies noch nicht gegeben sein sollte – als eine der wichtigen Fragestellungen in den Jahresgesprächen thematisieren.

Marktausblick Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist ein Thema, das kontroverse Reaktionen auslöst. Einerseits sind die Kosten nachhaltigen Wirtschaftens höher. Der Strompreis in Deutschland zeigt es beispielhaft. Andererseits sieht es so aus, als ob für uns die Kollateral-schäden der Nichtbeachtung z. B. des Ausstoßes von Treibhausgasen in die Atmosphäre am Ende teurer würden.
Die handelnden Personen bei G&W haben in vielen Fällen eine hohe Affinität zu Nachhaltigkeitsthemen. Wir sind daher seit einigen Jahren Kooperationen mit Partnern eingegangen, deren Nachhaltigkeitskompetenz seit Jahrzehnten eben-so außer Frage steht wie für uns die Kernkompetenz Risiko- und Chancenmanagement. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sind bemerkenswert und wir freuen uns daher auf das ab März 2021 regulatorisch geforderte Pflichtprogramm „Nachhaltigkeit“ in jedem Kapitalanlagegespräch.

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