Börsenunwetter

Leon Christian BreuerMarktkommentar

Börsenunwetter

2021 wurde von den Zentralbanken zum guten Börsenjahr gemacht. Sie haben die Märkte mit Liquidität geflutet und diese Flut verhalf vielen Aktien zu steigenden Kursen. Seit dem Sommer des vergangenen Jahres legte sich die Sorge vor ebenso steigenden Inflationsraten wie ein Schatten auf den Markt. Im Herbst fuhren sich die Kurse fest und nach einigen freundlichen Tagen am Jahresbeginn 2022 kippte die Stimmung radikal.

Vorhersehbarkeit
Liest man den Eingangstext zu diesem Marktkommentar, dann sieht es auf den ersten Blick so aus, als wäre der Absturz der Kurse vorhersehbar gewesen. So war es aber nicht. Das Szenario fallender Kurse war nur eine Möglichkeit. Nicht mehr. Wer auf diese Möglichkeit setzen wollte, hätte eine Meinung entwickeln müssen. Wäre er allerdings dabei konsequent gewesen, dann hätten dieser Meinung bereits im Sommer des vergangenen Jahres Verkäufe folgen müssen, denn so lange steht die Inflationserwartung bereits konkret im Raum. Ein Ausstieg im Sommer 2021 wäre aber zu früh gewesen. Im Vergleich zu einem späteren Ausstieg im ersten Quartal 2022 – dann auf der Ebene von Fakten statt Vermutungen – wäre durch den Frühausstieg nichts gewonnen gewesen. Vor allen Dingen aber konnte man sich zwei Probleme ersparen. Einerseits wäre Verkäufern der Investitionsdruck erspart geblieben, den die zunächst weiter steigenden Kurse auf die negative Performance von Liquiditätspositionen ausgeübt hätten. Zudem hätte jeder Verkäufer das Risiko tragen müssen, dass es gar keinen markanten Rückgang der Kurse gegeben hätte, sondern nur eine Korrektur über festgefahrene Kurse in einer Seitwärtsbewegung der Märkte. Dieses Potential von nicht fallenden Kursen war da, denn es gab eine ausgesprochen positive und auch berechtigte Erwartungshaltung an die Konjunktur in 2022 mit Blick auf das Nachholpotential des vorausgegangenen Konsumverzichts während der Corona-Zeit.

Von der Corona-Angst …
Eine 21 Monate dauernde Aufwärtsbewegung war die Antwort auf die Angst vor den Corona-Folgen. Dabei war die Angst im Februar 2020 berechtigt. Erfahrungen aus der Vergangenheit deuteten auf eine Jahrhundert- Rezession hin. Die globale Finanzkrise vom Sommer 2007 bis zum Frühjahr 2009 galt für einen Vergleich mit der anstehenden Corona- Rezession als nicht ausreichend. Erst der Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise ab dem Jahr 1929, einer der Auslöser des zweiten Weltkriegs, galt als adäquat. Dennoch kam alles anders, denn die Zentralbanken und Staaten wählten einen alternativen Umgang mit der Krise als 90 Jahre zuvor. Aber auch wenn es wegen der Flutung der Märkte mit Liquidität nicht zu einem Ereignis aus der Kategorie der größten anzunehmenden Unfälle kam, so folgten dem Einsatz des Heilmittels doch erhebliche Nebenwirkungen.

… zur Inflations-Angst …
Vom ersten Moment an waren die Warnungen im Markt: Wenn das zur Verfügung stehende Kapital zu stark erhöht wird, dann wird das Gleichgewicht zwischen Geld und dem, was man damit kaufen kann, gestört. Dieses Thema wurde kontrovers diskutiert, denn so einfach wie es klingt ist es dann doch nicht. Allein durch das Vorhandensein von Geld muss noch keine Nachfrage entstehen. Bis heute ist nicht eindeutig belegt, ob der aktuelle Inflationsschub durch ein Übergewicht an Nachfrage oder eine Störung des Angebots durch abreißende Lieferketten – z.B. durch die Null-Covid- Strategie und immer wieder neu verhängte Lockdowns in China – verursacht wird. Die ersten Inflationsdaten deuteten noch auf Einmaleffekte hin und so hielten sich die Zentralbanken zurück mit den üblichen Reaktionsmustern: steigenden Zinsen und einer Verknappung von Liquidität. Beides führt zu einem Abbremsen der Wirtschaftsdynamik. Weniger Nachfrage soll ein wieder ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herstellen. Die Hoffnungen der Zentralbanken auf Einmaleffekte erfüllten sich nicht. Auf der einen Seite baute sich Konsum- und Investitionsnachfrage auf. Auf der anderen Seite wurden zeitgleich wichtige Vorprodukte zu spät geliefert. Die deutsche Autoindustrie kann als gutes Beispiel gelten. Weil wichtige Bauteile (z. B. Mikrochips) fehlen, können weniger Autos gebaut werden als zuvor bestellt wurden. Weil sich die Auslieferungsfristen verlängern, verlagert sich die Nachfrage in den Gebrauchtwagensektor und erhöht dort die Preise. So funktionieren Angebot und Nachfrage. Natürlich hatten die Zentralbanken gesehen, dass die Märkte immer noch durch Covid-19 und besonders durch neue Varianten bedroht sind. Auf der anderen Seite hatte man erwartet, dass zerrissene Lieferketten mit weltweiten Alternativen neu geknüpft werden können. Man hatte gezögert. Zu fragil erschienen die Märkte, und so lautete die große Frage am Anfang des Jahres 2022 nun: Ist es schon zu spät für ein behutsames Abbremsen der Marktdynamik? Könnten die Zentralbanken jetzt nur noch mit brachialen Bremsmanövern die Kontrolle über das Geschehen zurückgewinnen? Diese Sorge wurde um so größer, je höher die Inflationsraten stiegen und je geringer die Hoffnung wurde, dass Einmaleffekten künftig keine Zweitrundeneffekte mit Lohn-Preis-Spiralen folgen würden. Wir hatten in unserem Marktkommentar zum Jahresende 2021 ein Bild gezeigt. Eine Wasseroberfläche. Sie stand für die Index-Ebene der Märkte. Unter dieser Oberfläche brodelten zwar Unterströmungen und hektische Branchenrotationen, aber über dem Untergrund war es geradezu idyllisch ruhig. Wolken warfen erste Schatten, aber per Saldo war ein Börsenunwetter nur eine Möglichkeit. Als sich das Inflationsszenario aber verdichtete, nahmen mehr und mehr Wolken den Alternativen das Licht. Sturm zog auf.

… zur Kriegs-Angst
Hätte unser Marktkommentar mit Überlegungen zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine beginnen müssen? Nahezu jeder Text und jedes Interview beginnen aktuell mit einem Statement zu dieser monströsen Aktion. Wir möchten es bei unserer Wahl des Adjektivs belassen. Jeder darüber hinaus gehende Versuch einer Einordnung oder Wertung scheint uns nicht angemessen zu sein. Wir müssen es auch deshalb nicht versuchen, weil wir als Quants den Trends im Markt folgen und uns damit die Entscheidungen erspart bleiben, welche Auswirkungen eine Inflationszahl, ein Unternehmensergebnis oder ein Krieg haben werden. Wir folgen stattdessen mit mathematischen Modellen den Kursbewegungen der Aktien, also den Mehrheitsentscheidungen der Käufer und Verkäufer an den Börsen. Auf dieser Ebene ist der Krieg in der Ukraine auch ein Musterbeispiel dafür, dass häufig etwas anderes geschieht als zunächst vermutet werden könnte. Wir haben eine geradezu toxische Mischung an den Börsen. China schließt immer wieder ganze Metropolregionen in Lockdowns ein und zerreißt damit Lieferketten. Die Inflation hat ein Niveau erreicht, das seit Jahrzehnten nicht mehr im Markt gesehen wurde. Hier sind die Bezüge zu dem Zitat Jetzt kommt ein wirtschaftlicher Krieg als Antwort auf einen militärischen Krieg in unserer Nachbarschaft hinzu. Die Bilder, die uns erreichen, berühren jeden auf der emotionalen Ebene. Die Szenarien, die gezeichnet werden, erreichen apokalyptische Ausmaße. Dennoch zeigte sich der Verlauf der Börsenkurse davon unbeeindruckt. Am Ende des ersten Quartals 2022, fünf Wochen nach Beginn des Kriegs, notieren die maßgeblichen Börsenindizes in Europa und den USA auf einem höheren Niveau als bei Kriegsbeginn und dabei weit über den Tiefkursen, die in der ersten Märzwoche 2022 erreicht wurden. Wie ist es möglich, dass die Märkte diesen Belastungen standhalten können?

Marktbulletin
Der langfristige Aufwärtstrend an den europäischen Börsen ist gebrochen. Er verlief vom Corona-Tief im März 2020 bis zum Hoch der Kurse am Jahresanfang 2022. Der Bruch dieses Aufwärtstrends im Februar 2022 hat einen mittelfristigen Abwärtstrend etabliert. Sein (bisheriges) Tief fand er im Bereich der Kurshochs aus der Zeit vor dem Corona- Crash. Gegen diesen mittelfristigen Abwärtstrend hat sich dann im März ein kurzfristiger Trend mit steigenden Kursen aufgebaut. Er ist jetzt seinerseits in maßgebliche Widerstandszonen hineingelaufen. So korrekt diese dreistufig differenzierte Beschreibung auch ist, es dürften sich kaum sinnvolle Schlussfolgerungen daraus ableiten lassen. Falls jetzt dennoch eine Entscheidung getroffen werden will, dann müsste sie auf subjektive Prämissensetzungen zurückgreifen. Ein Verkauf könnte mit einem Blick auf Europa begründet werden. Die Gasversorgung steht auf einer wackligen Grundlage. Falls es hier zu einem Lieferstopp kommen sollte, wird sich kurzfristig ein extremes Rezessionsumfeld aufbauen. Aber auch wenn es nicht zum Äußersten kommen würde, so bieten die üblichen Vorindikatoren wie z. B. der Geschäftsklimaindex keinerlei Unterstützung für neue Allzeithochs in überschaubarer Zeit. Wer einen Kauf begründen möchte wird in die USA schauen. Das Land ist in den vergangenen Jahren zum Netto-Energie-Exporteur geworden und kann mit der neuen Abnahmegarantie der Europäer einen Investitionsschub in der heimischen Gasbranche auslösen. Man ist räumlich weit weg vom Geschehen in Osteuropa. Die Wirtschaft zeigt sich dynamischer als dies in Europa der Fall ist. Die Konsumlust ist ungebrochen und auch der Börsenverlauf selbst ist nicht so angeschlagen wie hier in Europa. Eine Entscheidung zwischen diesen Szenarien werden unsere mathematischen Modelle treffen. Sie haben ihre Bewährungsprobe im angstgetriebenen Marktumfeld des ersten Quartals 2022 erneut bestanden, denn natürlich haben sie sich nicht emotional von einer Vorstellungskraft beeindrucken lassen, die an Börsen in extremen Marktphasen besonders kontraproduktiv sein kann. Sie haben uns im Februar aus den Aktien herausgeführt – und bei den marktnah disponierten Fonds im März zum Teil auch schon wieder hinein.

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