Warten auf einen Crash

Leon Christian BreuerMarktkommentar

Warten auf einen Crash

Nach einem guten Börsenjahr 2021 ist mit dem Jahreswechsel das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen. Die meisten G&WFonds sind daher im „Risk-Off“-Modus. Ursache für den schwachen Kursverlauf an den Märkten ist die Angst vor einer Verstetigung der Inflation. Seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine verharrt auch die Stimmung der Marktteilnehmer im Bereich historischer Tiefwerte. In der Berichterstattung der Medien zu den Märkten wurde die Bühne in den vergangenen Wochen bespielt vom Bild eines Sturms, „der unausweichlich kommen werde“.

Theater
Der irische Schriftsteller Samuel Beckett wurde 1969 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat sein berühmtes Theaterstück „Warten auf Godot“ im Herbst 1948 geschrieben: Auf der Bühne warten zwei Protagonisten. Godot werde kommen. Er schickt seinen Boten. Aber: nichts geschieht oder bewegt sich von der Stelle. Ein ganzer Kosmos voller widersprüchlicher Möglichkeiten öffnet sich stattdessen. Die öffentliche Meinung erwartet seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine einen Crash des Marktes. Man scheint ihn regelrecht herbeireden zu wollen. Auch wenn das aktuelle Quartal im April 2022 mit relativ hohen Kursen startete und gegen Ende hin schwach verlief, so zeigen die europäischen Börsen mit ihrem Gesamtbild eine Seitwärtsbewegung. Die Frage nach dem Ausgang dieses Wartens wird nicht ernsthaft gestellt. Der Crash werde kommen. Eine Alternative wird nicht gesehen, weil die Antwort bereits festzustehen scheint. Samuel Beckett konnte die Antwort in seinem Theaterstück offenlassen. Es ging ihm um die Widersinnigkeit im Verhalten von Menschen. Ob die Börsen mit ihrer Antwort den Erwartungen der Marktteilnehmer folgen, wird sich zeigen. Eine Antwort aber wird es auf jeden Fall geben. Natürlich sprechen Erfahrungen aus der Vergangenheit angesichts der aktuellen Belastungsfaktoren für fallende Kurse. Niemand aber kann wissen, wie weit die Kurse in diesem konkreten Börsenabschwung fallen werden und ebenso wenig, wie lange es dauert, bis ein tragfähiger Boden erreicht wird, der anschließend nicht mehr unterboten wird. Jederzeit kann dieser Punkt erreicht werden, über den hinaus es nicht mehr weiter abwärts geht. Im DAX-Index z.B. ist dies aktuell das Jahrestief vom 7. März, eine Woche nach Beginn des Kriegs in der Ukraine. Solange diese Marke von 12.438 Indexpunkten hält, besteht die Möglichkeit, dass der Markt bereits an seiner Bodenbildung arbeitet. Ob dieses Kurstief tatsächlich dem Druck des Marktes standhalten wird, steht weder fest noch kann es ausgeschlossen werden. Grundsätzlich werden Erwartungen an das Ausmaß von Börsenbewegungen häufig übertroffen, oder aber nicht erreicht. Getroffen werden sie so gut wie nie. In die Irre führen häufig Erinnerungen an Vergleiche der aktuellen Börsenlage mit einem konkreten Börsenverlauf in der Vergangenheit. Jedoch wird das, was jetzt gerade geschieht, immer neu im Moment des Geschehens zu erfahren, und auch emotional zu durchleben sein, und weil es neu ist, kann jederzeit eine Weiche anders gestellt werden, so dass die Handlung einen anderen Verlauf nimmt als das Erfahrungsmuster aus der Vergangenheit. Es ist daher sinnvoll, konkrete Kursmarken wie das Kurstief des DAX-Index vom 7. März 2022 nicht als Zielpunkt, sondern als Orientierungsmarke anzusehen.

Distanz
Maßgeblich für die Wahrnehmung von auf Dauer nicht zielführenden Entscheidungsmustern ist die (vor allen Dingen emotionale) Distanz zum Geschehen. Wer sich selbst zum Teil eines derartigen Geschehens machen lässt und dabei Meinungen für Tatsachen hält, kann nicht den Standpunkt eines Betrachters einnehmen, der jederzeit kommen und gehen kann, denn eine festgefahrene Meinung verstrickt so in das Geschehen, dass zu lange „aus Überzeugung“ auf Positionen beharrt wird und zur richtigen Zeit keine Änderung herbeigeführt werden kann. Die Freiheit von der Angst vor einem möglichen Crash an den Börsen kann nur durch die Position als Zuschauer am Spielfeldrand gewährleistet werden. Diese Position der Nichtbetroffenheit muss bereits erreicht sein, bevor sich die Stimmungslage an den Börsen zuspitzt. Wir haben diesen Platz am Spielfeldrand für unsere Kunden – und ebenso für uns als Verwalter – rechtzeitig durch systematische Verkäufe eingenommen. Prozyklisches Risikomanagement ist das Werkzeug, mit dem wir uns immer wieder zuverlässig von der belastenden Emotionalität der Entscheidungsfindung in ungewisser Faktenlage entkoppeln. Disziplin ist unser eigener und entscheidender Beitrag. Immer dann, wenn es sich kritisch an den Börsen anfühlt (es muss nicht kritisch sein), ist der Zuschauerrang eine komfortable und beruhigende Position.

Never fight the Fed
Das Federal Reserve System (die Fed) ist die Zentralbank der USA. Anders als in Europa ist die Hauptaufgabe der US-Zentralbank nicht die Vermeidung von Inflation, sondern die Unterstützung der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts, der nicht wie in Europa durch Sozialsysteme engmaschig gesichert wird. Inflation ist grundsätzlich zwar auch ein Thema, doch weil sie seit den 1970er Jahren nicht mehr das aktuelle Niveau erreicht hat, wurde die Erwartung, dass sie erneut entsteht, in den Hintergrund gedrängt. Im Vordergrund stand die Vermeidung eines deflationären Marktumfelds. Daher, aber auch aus politischen Gründen, hat die Fed seit 2018 zu viel Liquidität in die Märkte gepumpt. Als dann die US-Wirtschaft während der Corona-Lockdowns im Feuer stand, hat der Staat zudem etwa dreimal so viel Geld per Löschmittel- Schecks an die Bürger ausgeschüttet, als durch Corona dann tatsächlich verbrannt wurde. War es falsch? Vermutlich nicht. Weil so viel Löschmittel zur Verfügung stand, verbrannte weniger. Im Rückblick ist es leicht, so etwas zu sagen: Der Fehler entstand, als die Liquidität der Märkte nicht schnell genug wieder eingesammelt wurde. Es wäre allerdings nicht zum aktuellen Ausmaß an Inflation gekommen, wenn nicht gleichzeitig weniger Waren und Vorprodukte aus China (Corona- Politik der Lockdowns) gekommen, der Bedarf an Mikrochips nicht extrem unterschätzt, und die Energie- und damit auch die Nahrungsmittelpreise durch den Krieg in der Ukraine nicht so stark gestiegen wären. Diese Kombination aus einer Verknappung des Angebots von Waren und Energie während einer Nachfragespitze hat etwas erreicht, was jahrzehntelang nicht möglich schien: Inflation. Die Fed hat nun energisch ihre Politik von einer Anti-Deflations- zu einer Anti-Inflations-Bekämpfung geändert. Sie beginnt die Zinsen anzuheben. Sie wird die Liquidität verknappen. Sie zieht den Stecker, um das Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot wiederherzustellen. Weil sie keinen Zugriff auf die Angebotsseite hat, bremst sie die Nachfrage aus. Die amerikanischen Konsumenten fühlen sich reich. Ihre Aktien waren gestiegen. Ihre Hauspreise auch. Jetzt nimmt die Fed ihnen dieses Gefühl. Alle Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass es riskant ist, sich mit seinen Engagements am Kapitalmarkt gegen die Fed zu stellen. Allerdings wurde die erste Phase der fallenden Kurse bereits durch die Erwartung des Bremsmanövers ausgelöst. Die zweite Phase erfolgt jetzt im Verlauf des Bremswegs. Wie weit und wie tief es mit Konjunktur und Börsenkursen abwärtsgeht, wird an Nuancen hängen. Sobald es sich abzeichnet, dass die Inflationsraten nicht weiter steigen oder gar fallen, wird die Börse für eine Trendwende aufwärts bereit sein.

Zuschauerrang
Natürlich gibt es immer den perfekten Zeitpunkt für einen Ausstieg. Im Rückblick wird er auch erkennbar. Der Glaube daran, ihn während des Geschehens treffen zu können, ist und bleibt aber eine Illusion. Das geeignete Mittel, um zuverlässig an den Spielfeldrand zu kommen, ist daher ein taktischer Schritt-für- Schritt-Rückzug aus den Aktien. Immer neu wird die geeignete Position zwischen den beiden Polen – der Mitte des Spielfelds und den Zuschauerrängen – neu berechnet und dann konsequent eingenommen. Niemals wird bei G&W geredet und dann daraufhin nicht gehandelt – so wie in Becketts Meisterwerk. Immer wird gerechnet und dann sofort gehandelt. Weil wie so häufig auch im vergangenen Jahr der wirtschaftliche Aufschwung in den USA am stärksten war, sind auch dort die Kurse stärker gestiegen als an anderen Märkten. Daher ist auch jetzt der Druck der US-Zentralbank auf Zinsen und Liquidität größer als in Europa, und weil die Kurse in den USA vom zuvor höheren Niveau stärker gefallen sind als in Europa, ist auch die Investitionsquote in Aktien unserer US-Strategie am niedrigsten. Interessant als Randnotiz zu unserer R²- Strategie: ihre für diese Strategie erstaunlich hohe Aktienquote im gegebenen Marktumfeld von aktuell ca. 33 % wird, neben Minipositionen in den USA und Europa, durch einen hohen Anteil von Rohstoffaktien in Australien gebildet. Folgende Bespiele zeigen für unsere Mischfonds mit aktivem Risikomanagement den aktuellen Status des Rückzugs aus dem Risiko (der Chancen): Weil der weitere Verlauf der Börsen nie bekannt sein kann, ist Diversifikation immer ein geeignetes Mittel, um eine ausgewogene Aufstellung zu erreichen. In Summe geben die einzelnen Strategien im aktuellen Stimmungsfeld der Märkte unsere Antwort auf die Fragen, die zurzeit jeder Kunde jedem Fondsmanager oder Vermögensverwalter nahezu unisono stellt: Wie stark sind wir draußen? So gut wie kein Verwaltungskunde fragt heute danach, ob jetzt bereits der Punkt erreicht sein könnte, um erneut zu investieren. Diese Frage wird auch zum richtigen Zeitpunkt nicht gestellt werden, denn dann wird die Stimmung im Nachklang der Belastungsfaktoren noch negativ sein. Als Risikomanager ist es unsere Aufgabe, diese Trendwende zu steigenden Kursen ebenso im Blick zu haben wie die Verkäufe während des ersten Halbjahrs 2022.

Marktkommentar herunterladen (PDF-Datei, 1,54 MB)