Zeitenwende

Leon Christian BreuerMarktkommentar

Ein altes Wort wurde neu in den deutschen Sprachraum gestellt: Zeitenwende. Seine eigene Zeitenwende hat auch das Börsenjahr 2022 eingeläutet. Dreißig Jahre lang waren Inflation und Zinsen auf dem Rückzug. Das scheint Geschichte zu sein. Die Kapitalmärkte kannten darauf zunächst nur eine Antwort: abwärts.

Wort des Jahres
Seit 1977 ermittelt im Dezember eine Jury aus Sprachwissenschaftlern der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ zehn Wörter des Jahres und stellt eine Rangliste auf. Der Begriff Zeitenwende wurde zum Wort des Jahres 2022 gewählt. Zeitenwende war das Schlüsselwort einer Rede des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz vom 27. Februar 2022 und bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Die deutsche Energie- und Verteidigungspolitik hat sich nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine vollkommen neu ausgerichtet. Offenbleiben muss aber die Frage, ob der Begriff Zeitenwende für den Börsenverlauf nicht zu hoch gegriffen ist. Nicht umsonst lauten die kostspieligsten Wörter der Kapitalanlage: „Diesmal ist alles anders.“

Jahresrückblick 2022
Die Wertentwicklung im Börsenjahr 2022 war außergewöhnlich negativ. Alle maßgeblichen Aktienmärkte fielen in einem Ausmaß, wie es ein Jahrzehnt lang nicht mehr gesehen wurde. In der Grafik zeigen wir den Verlauf des S&P 500. Er gilt als der weltweit maßgeblichste Aktienindex. Das Bild spricht eine klare Sprache. So sieht ein intakter Abwärtstrend aus. Es waren aber nicht nur die Aktienkurse, die den Investoren zu schaffen machten. Anlass für den Stimmungsumschwung an den Aktienmärkten war die Änderung der Zinspolitik durch die US-Zentralbank (Fed). Aufgrund der Größe ihres Wirtschaftsraums und der Bedeutung der Währung USD für den weltweiten Handel, gibt die Fed global die geldpolitische Richtung vor. Indirekt löste diese Richtungsänderung von einer Anti-Deflationspolitik hin zu einer Anti-Inflationspolitik den Kursrutsch der Aktien aus. Primär zielt sie aber auf den Zinsmarkt. Dennoch waren die fallenden Kurse am Aktienmarkt kein Nebeneffekt der Zentralbankpolitik. Diese Schwäche wurde gewollt angesteuert. Die These der Fed lautete: Die Märkte sind im Ungleichgewicht. Eine zu starke Nachfrage trifft auf ein zu geringes Angebot. Das erzeugt einen Anstieg der Preise. Da die Geldpolitik in dieser Ausgangslage keinen Zugriff auf die Angebotsseite hat, also das Angebot nicht erhöhen kann, muss sie die Nachfrage abschwächen und dafür eine Rezession in Kauf nehmen. Die Fed will also mit ihrer Geldpolitik die US-Konsumenten, die sich durch einen starken Anstieg der Aktien- und Häusermärkte in den vergangenen Jahren relativ reich fühlten, ausbremsen. Fallende Aktien- und Immobilienpreise sind also in diesem Marktumfeld kein Kollateralschaden der Geldpolitik, sondern erklärte Ziele – nicht für alle Zeiten und auch nicht als Selbstzweck, aber so lange, bis die Inflationsraten als wieder kontrollierbar angesehen werden. Was für Aktieninvestitionen ein außergewöhnlich schlechtes Jahr gewesen ist, war für Anleiheninvestitionen – besonders bei langen Laufzeiten – extrem schlecht. Die Kursrückgänge der Anleihen waren teils höher als die der Aktien. Anlagestrategisch war diese zeitgleiche Dopplung von negativer Performance am Aktien- und Anleihenmarkt der zentrale Belastungspunkt der Wertentwicklung in 2022, besonders für die Portfolios, die konservativ und defensiv mit einem hohen Anleihenanteil gesteuert werden. Im Jahr 2008, dem letzten annähernd vergleichbaren Krisenjahr an den Börsen, konnten wir mit Anleihen erstklassiger Schuldner und langen Laufzeiten einen Ausgleichsertrag von mehr als 12 % erzielen. In diesem Jahr war dies nicht möglich, denn die Anleihen waren im Jahr 2022 nicht wie im Jahr 2008 der Fluchtpunkt für das Sicherheit suchende Kapital an den Märkten, sondern der permanente Brandherd der Marktschwäche. Ein Diversifikationselement hat allerdings im vergangenen Jahr doch funktioniert, zumindest in den ersten neun Monaten des Jahres: Der USD als Währung aus der Sicht von EUR-Investoren.

Stolperstein 2022
Jedes Jahr hat seine eigenen Herausforderungen für den Umgang mit den Marktbewegungen. Anfang 2022 war der schnelle Absturz der Märkte der Stolperstein. Inflation war zwar bereits seit einem halben Jahr als Thema im Markt. Allerdings dominierte – besonders bei den Zentralbanken – die Meinung, dass sich die Inflation nicht verselbständigen werde. Es wurden keine strukturellen Probleme gesehen. Bis zum Jahresende 2021 wurde die Börsenwelt daher noch von der Meinung bestimmt, dass die extreme Versorgung der Märkte mit Liquidität nur zu steigenden Kursen führen könne. Die volkswirtschaftlichen Prognosen setzten mit ihren Wachstumsannahmen darauf, dass diese Liquidität im Jahr 2022 zu weiteren Aufholeffekten nach der Coronazeit und einem enorm starken Wachstum führen würde. Am Jahresanfang 2022 änderte sich diese Einschätzung grundlegend, denn das Angebot des Marktes konnte wegen der Lieferkettenprobleme aufgrund der COVID-19-Politik in China diese hohe Nachfrage immer weniger zufriedenstellen. Die US-Zentralbank änderte daraufhin ihren geldpolitischen Kurs, die Märkte kippten aus intakten Trends und positiven Markterwartungen nach unten weg, so dass der Januar 2022 mit seiner Performance in nahezu allen G&W-Kundendepots zum schwächsten Monat im Jahr wurde. Schritt für Schritt folgten die G&W-Risikomanagementsysteme anschließend dem Markt, reduzierten die Aktienquoten und damit auch die künftigen Verlustpotentiale.

Verwaltungsauftrag erfüllt
Das zentrale Ereignis des aktuellen Abwärtstrends waren die Jahrestiefs der Aktienindizes von Ende September 2022. Diese Jahrestiefs hatten den Abwärtstrend zunächst bestätigt. Genau hier hätten die Abwärtstrends eine Eigendynamik entwickeln und die Märkte über eine Klippe stürzen lassen können, bis hin zu einem Crash. Das Potential dafür war vorhanden und ebenso die Angst davor. An dieser kritischen Stelle hatten die G&W-Strategien punktgenau ihre niedrigsten Aktienquoten des Jahres erreicht. Die meisten Kundenportfolios hielten sich zu diesem Zeitpunkt mit einer Aktienquote von weniger als 20 % am Rand des Spielfelds auf und haben zugeschaut. Das ist das Ziel der G&W-Risikomanagementsysteme und dieses Ziel wurde zuverlässig erreicht. Wäre der Markt über diese Klippe gestürzt, dann hätte auch ein Crash kaum Auswirkungen auf die weitere Wertentwicklung der G&W-Kundenportfolios gehabt. Doch der Markt ist Anfang Oktober 2022 über keine Klippe gestürzt, und weil dies nicht geschah, gab es eine Hoffnungsrallye der Aktienkurse im Markt. Die Hoffnung richtete sich darauf, dass die Inflationszahlen fallen und die Zentralbanken ihre Verschärfung der Zinspolitik daraufhin nicht fortsetzen würden. Die Inflationsraten sind dann tatsächlich gefallen, doch die Zentralbanken haben keine Anzeichen für eine Entschärfung ihrer Geldpolitik erkennen lassen. Im Gegenteil. Ihre Ansage lautete: Der Zinsanstieg werde länger dauern als von den Märkten erhofft.

Jahresausblick 2023
An diesem Punkt stehen die Märkte am Jahresende 2022. Die Kursbewegungen der marktbreiten Indizes (z.B. S&P 500, STOXX Europe 600, MDAX) sind in intakten Abwärtstrends gefangen. Die Marktbarometer mit den größten Unternehmen (z.B. DJIA, EURO STOXX 50, DAX) haben im Hoffnungslauf des Herbstes 2022 diese Abwärtstrends sogar gebrochen. Doch entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Märkte ist nicht, ob Abwärtstrendlinien durchbrochen und 200-Tage-Linien überboten wurden, denn die Hoffnungen der Märkte auf eine Lockerung in der Zinspolitik haben sich nicht erfüllt und die kurzfristigen Kursanstiege verloren daraufhin ihre Dynamik. Entscheidend wird letztendlich sein, ob die Jahrestiefs aus dem September 2022 in möglicherweise anstehenden Abwärtsreaktionen standhalten und die Basis für einen neuen und langfristigen Aufwärtstrend bilden werden. Falls im Negativszenario diese Unterstützungszonen nicht halten, kann eine neue Abwärtsdynamik zu neuen Zyklustiefs führen. Die Entscheidung über den Verlauf des Starts in das neue Jahr 2023 ist damit vollkommen offen. Es gibt wie immer Argumente für steigende Kurse. Würden sie sich durchsetzen, dann hätte der neue Aufwärtstrend seinen Ausgangspunkt tatsächlich bereits mit den Jahrestiefs 2022 gefunden. Die G&W-Risikomanagementsysteme haben diese Möglichkeit nicht außer Acht gelassen und sind dem steigenden Markt gefolgt. Sie haben von der eindeutig negativen Ausgangslage mit historisch niedrigen Investitionsquoten am Ende des dritten Quartals 2022 Abstand genommen und eine etwas offensivere Position bezogen, denn natürlich beginnt jeder neue Aufwärtstrend vollkommen unerwartet im Abwärtstrend und es gilt, ihn nicht zu verpassen. Falls es aber anders kommen sollte, wird entweder alten negativen Argumenten neues Gewicht zugemessen, oder neue negative Entwicklungen entstehen, die bisher in den Erwartungshaltungen der Marktteilnehmer nicht berücksichtig werden konnten. Sie könnten den Markt in seinem Erholungsansatz erneut überrumpeln und ihn in eine Abwärtsspirale schicken. Das Epizentrum solch einer Entwicklung könnte am Jahresanfang 2023 in China und seiner nicht vorbereiteten Öffnung des Landes im Umgang mit dem COVID- 19-Virus liegen. Es könnte auch eine Rezession sein mit einem weniger milden Verlauf als aktuell erhofft. In solch einem Szenario werden die G&W Risikomanagementsysteme die Heraufstufungen der Aktieninvestitionsquoten seit Oktober 2022 wieder zurücknehmen und die G&W-Kundenportfolios erneut von vorsichtig optimistisch auf sehr defensiv ausrichten.

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